Wenn das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht da ist

Wenn das Alte nicht mehr trägt

Auszug aus einem Vortrag von mir an der evangelischen Hochschule Ludwigsburg im April 2022 mit dem Titel:

„Übergänge gestalten bzw. wenn das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht da ist – wesentliche Elemente eines erfolgreichen (inklusionsorientierten) Changemanagements“

 

Veränderung und Übergänge als Normalfall im menschlichen Leben und in der menschlichen Entwicklung

Dass einem Krisen und krisenhafte Ereignisse im Leben begegnen, das ist eine anthropologische Grundkonstante, das macht den Kern menschlichen Lebens und menschlicher Entwicklung aus. Lebenszyklisch erwartbare Krisen als normative Krisen stehen nicht-normativen Krisen, die die Akteure gleichsam unerwartet und unvorbereitet treffen, gegenüber. Der Soziologe Ulrich Oevermann spricht von sozialisatorischen Krisen, die Psychologie von für den Übergang in nachfolgende Lebensphasen konstitutiven Entwicklungskrisen, die den Menschen im günstigen Falle gut vorbereiten auf unerwartete, sogenannte Verlust- oder Anpassungskrisen. Individuen erwerben sich im günstigen Falle über die prozesshafte Bewältigung von Krisen Resilienz als, wie Bruno Hildenbrand feststellt „spezifische Weisen von Handlung und Orientierung, die insbesondere bei Übergängen im individuellen Lebenszyklus und im Familienzyklus bedeutsam sind“ (Hildenbrand 2016 : 25). Wenn man so will sind sie konstitutiv für die autonome Lebenspraxis.
Krisen, also Veränderungen und Übergänge, sind ein Normalfall menschlicher Entwicklung und es stellt sich die Frage, wie schaffen es die Akteure, die Übergänge adaptiv zu bewältigen, Maladaption zu vermeiden, Gefühle von Kohärenz und Stimmigkeit zu erzeugen. „Gedeihen trotz widriger Umstände“ – dieser Buchtitel von Rosmarie Welter-Enderlin und Bruno Hildenbrand signalisiert wie ich finde sehr treffend worum es also geht: In widrigen Umständen, also in Krisen, in Übergängen, im Wandel einen Sinn zu sehen und Resilienz auszubilden.

Die Welt ist VUCA: Organisationen im Wandel, Arbeit 4.0, New Work etc.

Nichts ist so sicher wie der Wandel von Dingen, Zusammenhängen, Strukturen etc. und dieser macht natürlich auch nicht vor Organisationen und Systemen halt.

Im Gegenteil: Dass wir mitten in einem Umbruch sind ist unbestritten. Gerade in der heutigen, von Wandel, Digitalisierung und seit 2020 von Pandemie betroffenen Zeit, ist die Steuerung von Veränderung die zentrale Aufgabe von Verantwortungsträger in Institutionen und Organisationen.

Schon seit Jahren versucht die Fachwelt, diese Entwicklung zu beschreiben mit dem Akronym VUCA:

  • V = Volatility: ständige Schwankungen
  • U = Uncertainty: permanente Unsicherheit, nichts ist sicher, Halbwertszeit von Wissen wird immer kürzer, was heute entschieden wird taugt evtl. morgen schon nicht mehr
  • C= Complexity: überbordende und ständig zunehmende Komplexität, weswegen die Reduktion von Komplexität heute mehr denn je Erfolgsfaktor für die Steuerung von Unternehmen und Organisationen und notwendige Voraussetzung für die Orientierung aller Beteiligten, also die MitarbeiterInnen aber auch KlientInnen und Stakeholder, ist
  • A = Ambiguity: also Widersprüchliches scheinbar Unvereinbares besteht gleichzeitig und dieser Sachverhalt fordert die Überblicks- und Steuerungsfähigkeit aller Beteiligten in sehr hohem Maße.

Arbeit 4.0 meint dementsprechend die Konstruktion von Arbeit in genau dieser VUCA-Welt, die sich ja insbesondere auch durch die fortschreitende Digitalisierung der Arbeitswelt auszeichnet, bei gleichzeitigem demographischem und insgesamt gesellschaftlichem Wandel, mit allen Chancen und Herausforderungen.

Die sich abzeichnende New World verlangt nach neuen, anderen Kompetenzen und Skills aller Beteiligten und Systeme. „New Work“ fokussiert u.a. die Perspektive der individuellen AkteurInnen mit den je spezifischen Anforderungen an das Set von Wissen und Kompetenzen, von Überzeugungen, Haltung und Handlungsmuster. Wer in dieser Zeit gesellschaftlichen und organisationalen Wandels und Umbruchs auf vielfältige und v.a. auch tragfähige Ressourcen und bereits ausgebildete Resilienz zurückgreifen kann, ist im „transitorischen Raum“, wie Andrea Lanfranchi es nennt (Lanfranchi in Welter-Enderlin / Hildenbrand 2016 : 133), in dem wir uns aktuell befinden, gut aufgestellt. Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht alle AkteurInnen und Systeme das von sich behaupten können und professionelle Organisationsentwicklung und Changemanagement erweisen sich als hilfreiche und erfolgversprechende Dienstleitungen für Organisationen.

Die „Innenseite“ von Übergängen verstehen und gestalten

Was ist nun die Natur von Übergängen? Ganz gleich, ob Individuen, familiäre Systeme, Wirtschaftsunternehmen oder Unternehmen in der Bildungs- oder Sozialbranche sich im Change befinden, meist sind die alten, in der Vergangenheit ausgebildeten und mehr oder weniger tragfähigen Strukturen und Muster nicht mehr brauchbar. Das Neue zeichnet sich zwar schon ab, aber es liegt noch nicht greifbar vor uns. Wir „hängen“ im Dazwischen.

Cornelia von Velasco zeigt in Ihrem Text „Aufbruch ins Neue. Landkarte für Übergänge“ „Erlebnislandschaften“ auf und fokussiert damit die „Innenseite“ von herausfordernden Übergängen und von Wandel. Da ist einmal die Verwirrung und Verunsicherung im Selbstwert und im Selbstbild und die Erkenntnis der Notwendigkeit von Phasen der Instabilität, um komplexe Systeme in Natur und Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Aber auch Stagnation und eine besondere Form des Zeiterlebens sind konstitutiv. Zwar wissen wir, dass innerer Wandel Zeit kostet, es braucht Schleifen der Wiederholung und sogar der Pausen – die sich dann manchmal wie Stillstand oder Erstarrung anfühlen. „Übergang im Innenverhältnis“ ist demnach auch ein Prozess des Reifens und der Gärung und geht einher mit einem, wie von Velasco schreibt, „anstrengenden Gefühle-Mix“ (von Velasco 2018 : 85). Sie beschreibt es als einen besonderen Kraftakt – und das kann man sowohl auf Individuen als auch auf Organisationen beziehen – innerlich loszulassen und sich den Zukunftsängsten zu stellen.

Wenn sich Organisationen ändern müssen, einem Wandel nicht mehr aus dem Weg gehen können oder auch nicht mehr wollen, dann gilt es im erfolgsorientierten Changemanagement, immer auch die Innenseite des Changes zu sehen, Altes nicht nur zu kappen sondern auch zu würdigen was war und Hilfreiches sogar in das Neue mit hinüberzunehmen. Denn sowohl für die betroffenen Akteure wie auch für das System steht so Einiges auf dem Spiel.

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Verwendete Literatur

Bateson, G. (1988): Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Behrens, B. / Kühn, M. (2013): Potenziale von Menschen mit Behinderung erkennen, fördern und einsetzen – Das ganzheitliche Personalmanagement der Bundesagentur für Arbeit (Nürnberg). In: Böhm, S. A. / Baumgärtner, M. K. / Dwertmann, D. J. G. (Hrsg.) (2013): Berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderung. Best Practices aus dem ersten Arbeitsmarkt. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, S. 169 – 181.

Berner, W. (2012): Culture Change. Unternehmenskultur als Wettbewerbsvorteil. Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart.

Böhm, S. A. / Baumgärtner, M. K. / Dwertmann, D. J. G. (Hrsg.) (2013): Berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderung. Best Practices aus dem ersten Arbeitsmarkt. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg.

Durkheim, E. (1992): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Evangelischer Landesverband Tageseinrichtung für Kinder in Württemberg e.V. (2020): Wege zur inklusionsorientierten Praxis. Abschlussbericht zum Projekt InKLUsion: Teilhabe gestalten – Benachteiligung vermeiden. Kitas entwickeln eine inklusionsorientierte Praxis.

Gairing, F. (2008): Organisationsentwicklung als Lernprozess von Menschen und Systemen. Beltz Verlag, Weinheim, Basel.

Gebhardt, M. / Kuhl, J. / Wittich, C. / Wember, F.B. (2018) Inklusives Modell in der Lehramtsausbildung nach den Anforderungen der UN-BRK. In: Hußmann, S. (Hrsg.) (2018): DoProfiL. Das Dortmunder Profil für inklusionsorientierte Lehrerinnen- und Lehrerausbildung. Waxmann, Münster, New York. S. 279 – 292.

Haider, M. (2013): Diversity-Management bei equalizent (Wien). In: Böhm, S. A. / Baumgärtner, M. K. / Dwertmann, D. J. G. (Hrsg.) (2013): Berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderung. Best Practices aus dem ersten Arbeitsmarkt. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, S. 273 – 290.

Kohnke, O. / Wieser, D. (2012): Die Veränderungskurve – Ein Berater-Mythos? In: OrganisationsEntwicklung Nr. 1/2012, S. 54 – 62.

Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen Verlag.

Lanfranchi, A. (2016): Resilienzförderung von Kindern bei Migration und Flucht. In: Welter-Enderlin, R. / Hildenbrand, B. (Hrsg.) (2016): Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg, S. 121 – 140.

Neuberger, O. (2006): Mikropolitik und Moral in Organisationen. Lucius & Lucius Verlag, Stuttgart.

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Rilke, R. M. (1929): Briefe an einen jungen Dichter. Insel Verlag, Leipzig.

Scharmer, C. O. / Käufer, K. (2017): Von der Zukunft her führen. Theorie U in der Praxis.

Carl-Auer-Verlag, Heidelberg.

Schmidt, B. / Messmer, A. (2009): Systemische Personal-, Organisations- und Kulturentwicklung. Konzepte und Perspektiven. EHP-Verlag, Gevelsberg.

Schein, E. (1995): Unternehmenskultur. Ein Handbuch für Führungskräfte. Campus Verlag, Frankfurt a. M., New York.

Simon, F. B. (1988): Unterschiede, die Unterschiede machen. Berlin.

Streich, R. K. (1997): Veränderungsmanagement. In: Reiß, M. / Rosenstiel, L. / Lanz, A. (Hrsg.): Changemanagement: Programme, Projekte und Prozesse. Schäffer-Poeschel, S. 237 – 254.

Von Velasco, C. (2018): Aufbruch ins Neue. Landkarte für Übergänge. Connimago, Preetz.

Weise, F. J. (2013): Vorwort des Vorsitzenden des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit (Deutschland). In: Böhm, S. A. / Baumgärtner, M. K. / Dwertmann, D. J. G. (Hrsg.) (2013): Berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderung. Best Practices aus dem ersten Arbeitsmarkt. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, S. V – VI.

Welter-Enderlin, R. / Hildenbrand, B. (Hrsg.) (2016): Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg.

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